Es ist wieder einmal kalt. Minus 15 Grad wären keine Sensation, aber es pfeift heftiger Wind, und der hat es in sich. Ich liege flach auf dem Eis, bin eingepackt in vielen Schichten erstklassiger Expeditionskleidung, die wenigen Quadratzentimeter unbedeckter Haut sind dick mit Faktor 50 Sonnenschutz eingeschmiert – denn ich liege praktisch direkt unter dem Ozonloch. Das Sonnenschild taucht die Welt um mich in einen gelblichen Farbton, und gelegentlich nehme ich es ab, um die natürlichen Farben auf mich einwirken zu lassen. Für wenige Sekunden, denn das von der Eiswüste reflektierte Licht ist äußerst grell und aggressiv. Die Kamera zu bedienen ist nicht ganz einfach – zwei Paar warmer Handschuhe, darüber noch Expeditionsfäustlinge, schützen meine Hände, und auf der Rückseite meiner Nikon hat sich ein ansehnlicher Eispanzer gebildet. Ich muss die Knöpfe erst freikratzen, um sie drücken zu können.

Der Anblick, der sich mir bietet, entschädigt allerdings für alle Mühen. Wenige Meter vor mir liegt eine Kolonie von Kaiserpinguinen, mehrere tausend Tiere, darunter jede Menge Küken. Stunden- und tagelang kann ich die Vögel beobachten – ihre schnatternden Geräusche, ihr drolliges Watscheln, Altvögel, die ihre Jungen füttern, vom Meer zurückkehrende Tiere, die ihre Partner begrüßen und bei der Brutpflege ablösen, junge Küken, die ihren Eltern auf Schritt und Tritt folgen, ältere Jungtiere, die gemeinsame Gruppen bilden und zum Schutz vor der Kälte zusammenrücken…. und hin und wieder ein kleiner Adeliepinguin, der wie ein Clown durch die Kolonie der großen Verwandten stolpert. Die Pinguine sind unglaublich neugierig. Ich brauche nur dazusitzen, und nach und nach kommen die Tiere immer näher, steigen mir fast auf die Füße, betrachten interessiert das seltsame Wesen, das aus einer anderen Welt zu ihnen gekommen ist. Kaiserpinguine haben außerhalb des Meeres keine Feinde und sind zutraulich wie Haustiere. Ich würde mich unter keinen Umständen einem Pinguin so sehr annähern wie diese das umgekehrt tun – aber durch dieses Verhalten liege ich buchstäblich einen Meter vor den prächtigen Vögeln, und ich fotografiere sie aus der Froschperspektive – mit Weitwinkelobjektiv. Die faszinierende Geräuschkulisse der Kolonie werde ich ebenso wie den unglaublichen optischen Eindruck niemals vergessen – und die eisige Kälte hat den großen Vorteil, dass der Gestank, der ansonsten unvermeidlicher Begleiter aller Vogelkolonien ist, hier kein Thema ist.

Kaiserpinguine sind die einzigen Pinguine, die in ihrer ganzen Lebenszeit niemals das Festland betreten. Sie verbringen einen großen Teil des Jahres im Meer, wo sie Nahrung suchen und ihrerseits von Seeleoparden oder Orcas gejagt werden. Erst zur Paarungszeit bilden sie Kolonien – auf gefrorenen Meereisschollen, gut hundert Kilometer vom offenen Wasser entfernt. Nach der Eiablage wird das Ei von den Männchen ausgebrütet, die es auf ihren Füßen balancieren und durch eine Bauchfalte vor der Kälte schützen. Das passiert im antarktischen Winter, bei Temperaturen bis zu minus 70 Grad und gnadenlosen Stürmen, denen die Pinguinmännchen trotzten müssen – mit ihrer Fettschicht, dem dichtesten Federkleid in der Vogelwelt und im Schutz der Kolonie, wo die Tiere eng zusammenrücken und abwechselnd an der Innen- und Außenseite der Gruppe stehen. Selbstverständlich darf das Ei niemals zu Boden rollen, das sich entwickelnde Küken würde augenblicklich erfrieren. Und ebenso selbstverständlich gibt es für die Männchen unter diesen Bedingungen – den extremsten überhaupt auf unserem Planeten – monatelang nichts zu fressen. Mehr noch, wenn im Frühling das Küken schlüpft besteht seine erste Portion Nahrung aus dem hervorgewürgten Mageninhalt seines Vaters. Dann, endlich, kehren die Weibchen satt vom monatelangen Fisch- und Tintenfischfang zurück. Sie begrüßen ihre Partner und sehen zum ersten Mal ihr Junges, das, immer noch zu klein, um Eis und Kälte zu trotzen, von den Füßen des Vaters auf die der Mutter wechselt. Jetzt endlich machen sich die Männchen auf den Weg zum Meer, um zu jagen und zu fressen. Noch mehrere Male wechseln sich Männchen und Weibchen ab, und der Weg zum offenen Meer wird durch die steigenden Temperaturen und das schmelzende Eis immer kürzer. Die Kolonie, die ursprünglich hundert Kilometer vom Rand der Eisscholle entfernt war, liegt zuletzt nur noch wenige Kilometer vom Wasser. Aber der Antarktische Sommer ist kurz und bald beginnt das Meereis wieder zu frieren. Und daher ist die Entwicklung der Jungtiere ein Wettlauf mit der Zeit. Diejenigen, die es nicht rechtzeitig bis zur Mauser schaffen, können in ihrem Daunenkleid nicht schwimmen – und werden unweigerlich sterben.

So extrem wie die Ökologie der Kaiserpinguine, so exklusiv ist auch das Erlebnis, diese besuchen zu dürfen. Kaiserpinguine sind die einzige Pinguinart, die in der Antarktis brütet und überwintert – alle anderen Pinguine leben auf den subantarktischen Inseln, in Patagonien, Südafrika und Neuseeland, eine Art sogar im tropisch heißen Galapagos. Eine einzige Kaiserpinguinkolonie, nämlich jene auf Snow Hill Island, ist nach meiner Kenntnis mit dem kommerziellen Expeditionsschiff erreichbar. Die Gäste werden mit Hubschraubern in die Nähe der Kolonie geflogen und wieder abgeholt, was natürlich nur bei entsprechend stabilem Wetter möglich ist. Die Wahrscheinlichkeit für eine erfolgreiche Landung wird vom Veranstalter mit deutlich unter 50% angegeben, und die Zeit in der Kolonie ist entsprechend kurz. Ich habe das selbst nicht versucht, aber es erscheint mir nicht als ideale Lösung für engagierte Naturfotografie.

Wer Kaiserpinguine wirklich erleben möchte, wer mit der Kolonie leben und die Vögel stundenlang beobachten will, wer zu verschiedenen Tages- und Nachtzeiten fotografieren und beobachten möchte – der entscheidet sich für eine Expedition, für Verzicht auf Komfort und für persönliche Flexibilität. Ein Flug ins Basecamp und ein weiterer Flug zu einem kleinen Lager an der Pinguinkolonie sind notwendig, letzterer erfolgt in einer Boeing DC 3 (gebaut in den 1940er Jahren, bekannt als „Rosinenbomber“ während der Berlinblockade). Naturgemäß sind An- und Abreise nur bei idealem Wetter möglich, da die Flugzeuge auf blankem Eis landen und selbstverständlich nur auf Sicht navigiert werden kann – bei Bewölkung ist die Landung mitten in einer fast strukturlosen Eislandschaft praktisch unmöglich. Dadurch kann sich die Abreise und Rückkehr von und nach Chile durchaus um einige Tage verzögern, man ist also gut beraten, ausreichend Zeit und Geduld mitzubringen.

Das Emperor Penguins Camp -buchstäblich am Ende der Welt- bietet Platz für ein winziges Grüppchen von Expeditionsteilnehmern, es steht auf einer Eisscholle, die vielleicht 1 1/2 Meter dick ist – genug, um ein Flugzeug darauf zu landen. Die Übernachtung erfolgt in kleinen Zelten und in einem dicken, zweilagigen Expeditionsschlafsack, die Verpflegung ist limitiert, fließendes Wasser gibt es nicht, von Waschmöglichkeiten ist ohnehin keine Rede – allenfalls kann man sich mit Schnee abreiben, was man bei diesen Temperaturen aber jedenfalls nicht regelmäßig macht. Die eigentliche Pinguinkolonie liegt etwa 2 Kilometer entfernt – eine Strecke, die ich mehrmals täglich und so oft wie möglich in voller Antarktiskleidung und mit umgeschnallten Schlitten zurücklege. Auf fast 80 Grad südlicher Breite herrscht im November 24 Stunden Tageslicht, allerdings mit deutlichen tageszeitlichen Unterschieden. Das flache Licht ist um Mitternacht schlichtweg magisch, und dadurch schlafe ich insgesamt recht wenig.

Übrigens legen die Betreiber größten Wert auf Nachhaltigkeit. Das Camp wird (ebenso wie das Basecamp) in jeder Saison komplett neu auf- und abgebaut, nichts wird zurückgelassen. Selbst die menschlichen Fäkalien werden in Fässern gesammelt und am Ende der ohnehin sehr kurzen Saison nach Chile ausgeflogen. Nichts soll am Ende des antarktischen Sommers an die menschliche Anwesenheit erinnern, und wo es geht wird mit umweltschonenden Ressourcen und Techniken gearbeitet. Auf den rücksichtsvollen Umgang mit den Pinguinen wird sowieseo genauestens geachtet.

In den unwirtlichen, entlegenen und entfernten Ecken der Welt, dort wo die Natur wild und rau und faszinierend ist, trifft man aber auch interessante Menschen. Neben mir auf dem Eis liegt Sue, eine britische Profifotografin. Sie hat einen grandiosen Bildband über Kaiserpinguine veröffentlicht, hat für die BBC und David Attenborough für „Blue Planet“ gedreht und war mit ihrer Kamera überall auf der Welt. Wir reden endlos miteinander, unsere Interessen könnten nicht ähnlicher sein. Hannah, die das Camp leitet, hat nicht nur eine Überwinterung auf der britischen Antarktisbasis Rothera (und im Zuge dessen eine Feldexpedition von 90 Tagen mit Schlitten und Zelt im Eis) in ihrer Biographie, sondern auch eine Soloexpedition ohne externe Unterstützung mit Skiern zum Südpol. Sie ist immer fröhlich und gut aufgelegt. Ein Beauty Case und einen Haarfön hat sie bestimmt nicht im Gepäck. Von Frank, einem stillen und sympathischen Schotten, der ebenfalls im Camp arbeitet, erfahre ich nach ein paar Tagen, dass er den Mount Everest bestiegen hat – bisher ganze 14 Mal. Er redet davon ebensowenig wie von seinen anderen Achttausendern. John, der Pilot, gilt in Polarfliegerkreisen als lebende Legende. Als auf einer amerikanischen Antarktisstation in der Überwinterungsmannschaft ein Teammitglied lebensgefährlich erkrankte und der Stationsarzt am Rande seiner Möglichkeiten angekommen war, flog John eine eigentlich als unmöglich geltende Rettungsmission. Mitten im antarktischen Winter – es hatte minus 72 Grad Celsius – und bei 24 stündiger Dunkelheit gelang es ihm , auf dem blanken Eis zu landen und den Mann auszufliegen.

In dieser grandiosen Umgebung, dieser wilden Natur und umgeben von starken Charakteren erscheinen die alltäglichen Sorgen und Probleme viel, viel kleiner als zu Hause. Vielleicht sind sie auch nur auf ihre tatsächliche Bedeutung zurückgeschrumpft. Mir ist jedenfalls bewusst, dass ich ein geradezu unverschämtes Glück habe. Nur einer Handvoll Reisenden ist es vergönnt, zum wiederholten Mal in die Antarktis zu kommen, und der Besuch eine Kaiserpinguinkolonie im Weddellmeer ist mit Sicherheit eines der exklusivsten und herausragendsten Erlebnisse, die der Planet Erde zu bieten hat.