Mein erster Besuch in Myanmar war 1996. Ich war 18 Jahre alt, trug einen großen Rucksack und war neugierig auf die weite Welt. Kaum jemand in meinem Bekanntenkreis wusste, dass es Myanmar gab, und diejenigen, die es wussten, nannten das Land Burma – so wie meine Englischlehrerin, die mir „Burmese Days“ von George Orwell zur Abreise schenkte. Kein Mensch war jemals in dem Land gewesen, und keiner verstand, was ich dort wollte – aber so geht es mir bis heute auf den meisten meiner Reisen, und genau das bestätigt mich in der Auswahl meiner Ziele.
Myanmar hatte eben erst begonnen, sich für den Tourismus zu öffnen, und lächerlich kleine Zahlen an Ausländern bereisten das Land. Am internationalen Flughafen von Yangon war unsere Flugzeug die einzige große Passagiermaschine – ansonsten gab es nur ein paar kleine Flugzeuge der nationalen Gesellschaft, die, wie in allen Ländern mit schwacher Infrastruktur, die einzelnen Regionen des Landes miteinander verbanden, die auf dem Straßenweg erst nach Tagen oder Wochen zu erreichen gewesen wären – und jede Menge Militärflugzeuge. Das Militär war -wenig überraschend in einer Militärdiktatur- allgegenwärtig, und die Regeln entsprachen denen vieler autoritärer Staaten, die ich im Lauf der Zeit besuchte: dem Militär möglichst aus dem Weg gehen, Anweisungen ohne Murren befolgen, keinesfalls Militär, Polizei, Kasernen oder Infrastruktur wie Bahnhöfe fotografieren, usw. Es war verboten, den Namen von Aung San Suu Kyi, die damals unter Hausarrest stand, auch nur zu erwähnen, Gespräche mit Einheimischen über Politik waren unbedingt zu vermeiden, Geld konnte zu einem irrwitzigen Kurs offiziell oder mit einigem Risiko zu realistischen Bedingungen am Schwarzmarkt gewechselt werden. Die Regierung hatte nur die zentralen Regionen des Landes wirklich unter Kontrolle, in mehreren Landesteilen brauchte man eine offizielle, bewaffnete Eskorte, andere waren wegen der Rebellenaktivitäten gänzlich unmöglich zu bereisen. Im Norden des Landes wurden in großem Stil Drogen angebaut -eine wichtige Einnahmequelle- und manche Gebiete waren praktisch unerschlossen und nur aus der Luft mit Hubschraubern zu erreichen, was natürlich den staatlichen Institutionen vorbehalten war. Die Unterkünfte waren im ganzen Land abenteuerlich, und das Essen schmeckte zwar gut, war aber eine größere Herausforderung für meine Gesundheit als irgendwo sonst auf der Welt.
Dennoch, meine Eindrücke von Myanmar waren praktisch ausschließlich positiv. Ich traf praktisch nur freundliche, fröhliche, liebenswürdige und zuvorkommende Menschen. Ich wurde nie von Uniformierten -oder irgend jemand anderem- schikaniert. Und das Land war wie ein Märchen, wie Asien vor hundert Jahren. Die Menschen gingen zu Fuß, fuhren mit dem Rad oder mit hölzernen Wägen, die von Ochsen gezogen wurden. Die Bauern säten und ernteten mit der Hand, und die Minenarbeiter hatten nur einfachste Werkzeuge zur Verfügung, aber sie lächelten, scherzten und waren stets gut aufgelegt. Die Mönche waren allgegenwärtig wie die Buddhastatuen, die Pagoden waren zauberhaft, die Stimmung und Atmosphäre -vor allem auf dem Land- riefen Assoziationen mit einer vorindustriellen Gesellschaft wach, die zwar nicht im Luxus lebt, aber Zeit und Glück noch nicht verloren hat. Natürlich war mir bewusst, dass das Land eine Militärdiktatur war, dass es viele Probleme hatte, dass es viele politische und persönliche Freiheiten einfach nicht gab, dass viele der Errungenschaften moderner Gesellschaften, vom Gesundheits- bis zum Bildungswesen, nur in Ansätzen vorhanden waren. Aber aus dem Blick des Reisenden war Myanmar wie eine Zeitreise in eine versunkene Welt.
Als ich 15 Jahre später wieder nach Myanmar kam hatte sich einiges verändert. Demokratische Reformen wurden auf den Weg gebracht, die einstige Staatsfeindin San Suu Kyi war faktische Regierungschefin, ihr Foto war auf den Titelseiten aller Zeitungen, hing in den Lokalen, war auf Wände gemalt. Barack Obama besuchte Myanmar um die Demokratisierung des Landes zu unterstützen und wohl auch um den Einfluss Amerikas gegenüber dem mächtigen Nachbarn China zu stärken. Und Myanmar war fixer Programmbestandteil vieler Pauschalreiseveranstalter, und zwar nicht mehr unter den ungewöhnlichen Reisezielen sondern unter den beliebten Trendzielen. Ich wollte unbedingt noch einmal nach Myanmar, bevor dort der Massentourismus ausbrechen und das Land in ein zweites Vietnam oder Thailand verwandeln würde. Und bei aller Sympathie für die Befreiung der Bevölkerung hatte ich gleichzeitig die Sorge, dass die kulturelle Identität des Landes wie in so vielen anderen Ländern von einem indifferenten Einheitskulturbrei verdrängt würde. Ich wollte Myanmar sehen, bevor Hochhäuser mit Neonwerbung die traditionellen Märkte ersetzten.
Tatsächlich waren viel mehr Touristen im Land – allerdings immer noch auf einem einigermaßen verträglichen Niveau – der Verkehr hatte um ein Vielfaches zugenommen, und in Yangon gab es täglichen Stau von mehreren Stunden im Berufsverkehr. Ich konnte Regionen besuchen, die vorher nicht zugänglich waren, und im Land herrschte eine gewisse Aufbruchsstimmung. Dennoch war der Zauber dieses märchenhaften Landes noch erhalten geblieben.
Wie wir heute wissen, hat das Experiment der Demokratisierung in Myanmar nicht funktioniert. 2021 übernahm das Militär erneut die Macht, und das Jahrzehnt ziviler Regierung versank in Protesten, die blutig niedergeschlagen wurden. Es ist heute mehr denn je unsicher, wie sich das Land entwickeln wird. Doch Myanmar hat in seiner langen Geschichte viele Herrscher und Reiche kommen und gehen sehen. Und nicht wenige dachten, ihre Herrschaft würde ewig währen.
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